Nachrichten der Kreistagsfraktion

Der Kommentar - Was der Erzieherinnenstreik mit der Minutenpflege zu tun hat

von Tina Hobusch, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Kreistagsfraktion

Die Diskussion über die Bezahlung im sozialen Bereich ist ein hochaktuelles Thema. Der Arbeitskampf der Sozial- und Erziehungsberufe hält an. Die Zeiten sind gut für eine Neubewertung dieser Berufe: durch den lange fälligen Ausbau der Betreuung für unter Dreijährige ist der Arbeitsmarkt für Erzieherinnen leergefegt und der Bedarf reißt nicht ab (Stichwort: Schulkinderbetreuung). Auch in der Pflege ist es zunehmend schwierig, qualifiziertes Personal zu finden und zu halten. 30.000 Stellen sind aktuell unbesetzt, bis 2030 fehlen Studien zufolge bis zu 300.000 Pflegekräfte. Mehr Gehalt ist da eine berechtigte und sinnvolle Forderung. Diese Berufe haben mehr gesellschaftliche Anerkennung verdient. Und das heißt in unserer Gesellschaft eben auch: mehr Geld.

tina-hobusch-kommentar

Wer einen sozialen Beruf ergreift, setzt in der Regel nicht auf das große Geld. Motiviert sind junge Menschen hier von der Aussicht, etwas Sinnvolles zu tun, sie möchten mit Menschen arbeiten, sie unterstützen und befähigen, ihr Leben selbstbestimmt oder zumindest so selbstbestimmt wie möglich zu leben. Aber es kann nicht sein, dass der Verdienst in diesen Berufen nicht ausreicht, um die eigene Familie zu ernähren. Es gibt alleinerziehende Sozialarbeiterinnen in Jugendämtern mit zwei Kindern, die bei ihren Kolleginnen vom Jobcenter ergänzendes Arbeitslosengeld II beantragen müssen. Das gilt für andere Berufsgruppen im sozialen Bereich genauso. Berufsgruppen mit hohem Frauenanteil übrigens…

Die Forderung nach mehr Gehalt in diesem Bereich ist also mehr als berechtigt. Es geht aber auch noch um etwas anderes. Soziale Berufe ringen seit ihrem Bestehen darum, als Berufe mit eigenen Standards anerkannt zu sein. Angehörige dieser Berufe investieren viel Zeit in ihre Ausbildung und bilden sich häufig kontinuierlich fort. Nun sind die allermeisten sozialen Berufe im Non-Profit-Bereich angesiedelt. Der Mehrwert von sozialer Arbeit, Erziehung von Kleinkindern, Pflege von alten Menschen ist meist schwer in Geld zu messen. Im Gegenteil: Solidarsysteme, wie Kranken- oder Pflegeversicherung und öffentliche Haushalte, werden belastet, in der Regel durch Personalkosten. Und da gilt es in diesen Tagen: Sparen, Sparen, Sparen. Nicht nur am Gehalt der einzelnen Mitarbeiterin. Nein, auch an Kolleginnen, an Ausstattung, an Unterstützung wie Supervision oder Fortbildung.

  • Da ist die Altenpflegerin, die unter Tarif bezahlt wird und von ihren Vorgesetzten dazu getrieben wird, immer auf die Minuten zu achten.
  • Da ist eine viergruppige Kita, in der wegen unbesetzter Stellen und Krankheit nur noch drei Fachkräfte beschäftigt. Der Rest wird mit wechselnden Honorarkräften und ungelernten Kolleginnen abgedeckt. Wegen dem Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz werden trotzdem alle vorgesehenen Plätze vergeben.
  • Das ist eine Leiterin eines Pflegeheims mit 100 Plätzen, die neben ihrer Verwaltungstätigkeit mindestens einmal in der Woche keinen Feierabend , sondern einen Nachdienst macht. Die Personaldecke deckt weder Krankheiten noch Urlaub ab.
  • Da ist die Erzieherin, die vor einem halben Jahr eine umfangreiche Fortbildung in einer Methode der Sprachförderung abgeschlossen hat. Ihre Leitung hat sich sehr dafür eingesetzt, dass ein Teil der Kosten dafür vom Arbeitgeber übernommen werden. Die Erzieherin hat die Vor- und Nachbereitung der Fortbildung in ihrer Freizeit geleistet. Bis heute hat sie nichts von dieser Fortbildung umsetzen können. Wegen des Personalmangels gibt es einfach keine Gelegenheit, mit einer kleineren Gruppe von Kindern zu arbeiten.
  • Da wird die Qualität eines Pflegeheims unter anderem an der Auswahl der Essen gemessen. Die zuständige Altenpflegerin muss zwölf Einwohner/innen rechnerisch in einer Stunde bei der Essensaufnahme unterstützen, das heißt fünf Minuten pro Bewohnerin/Bewohner.
  • Da ist der Schulsozialarbeiter, der in seiner Freizeit einen Kletterschein macht, weil ihm der Etat für Honorarkräfte komplett gestrichen wurde und die Kletterfreizeit den Jugendlichen schon angekündigt war.
  • Da ist die Mitarbeiterin eines Pflegedienstes, die jeden Tag mindestens eine unbezahlte Überstunde macht, weil sie es nicht aushält, nicht mit „ihren Alten“ zu schwätzen.
  • Da ist die engagierte Sozialarbeiterin der offenen Altenarbeit, der die Kommunalpolitik zuruft, dass ihr seit 20 Jahren bestehendes offenes Angebot für ältere Mitbürger leider, leider eine freiwillige Leistung und somit „Luxus“ sei.
  • Da werden Ausbildungsstellen in Pflegeheimen gestrichen, weil das Budget dafür anderweitig gebraucht wird.
  • Da ist die kommunale Sozialstation, die ambulante Pflege anbietet, und um ihre Existenz bangen muss. Die kommunalen Zuschüsse, die eine Versorgung entlegen wohnender Mitbürger/innen ermöglicht, ist eine „Wettbewerbsverzerrung“.

Diese Zustände werten Arbeit von Fachkräften im sozialen Bereich ab. Hier arbeiten in der Regel Menschen, die – zum Glück für die Nutzerinnen und Nutzer – hochgradig mit ihrem Beruf identifiziert sind. Wir verlangen von den Fachkräften im sozialen Bereich, dass sie sich mit einem geringeren Verdienst abfinden und sie dann ihre Arbeit noch nicht einmal an den eigenen fachlichen Standards ausrichten können. Zu einer Aufwertung der sozialen Berufe gehört es auch, dass wir fachliche Standards nicht ständig untergraben. Wer Altenpflegerin wird, möchte alte, gebrechliche Menschen unterstützen – mit Fachwissen und Sensibilität, nicht aber im Minutentakt und ohne auf die Bedürfnisse des Gegenübers zu achten.

Natürlich ist nicht unbegrenzt Geld im System und auf die Kosten muss geachtet werden, aber wir dürfen uns die Motivation von Menschen in sozialen Berufen und die Würde von Nutzerinnen und Nutzern sozialer Hilfsangebote nicht kaputt sparen. Wer soll diese Berufe denn ergreifen? Ich möchte nicht im Minutentakt gepflegt werden, erst recht nicht von jemanden, die ihre Pflege an der Logik des Geldes und des Marktes ausrichtet. Und ich möchte, dass diese Person mit ihrer Arbeit ihre Familie ernähren kann.

Wir müssen uns für ein Pflegesystem einsetzen, dass Qualität nicht nur an der Auswahl der Essen, sondern auch nach der Darreichungsform misst. Dass soziale Standards wie tarifliche Bezahlung und eine solidarische Finanzierung der Ausbildung von Pflegekräften beinhaltet. Teile davon sind in der aktuellen Pflegereform enthalten, an anderen Punkten muss weiter gearbeitet werden. Wir müssen entsprechend Einfluss auf Bundes- und Landespolitik nehmen. Die vorhandenen Möglichkeiten, die Kommunen und Kreise haben, zum Beispiel in der Verhandlung von Tagessätzen für Heimplätze, müssen genutzt werden. Dazu kommt noch ein wichtiger Punkt: Wir brauchen eine finanzielle Ausstattung der Kommunen, die eine kommunale Sozialpolitik ermöglicht. Nicht verschwenderisch, aber mit der Möglichkeit, eigene Standards und Prioritäten zu definieren. Und keinen pauschalen Verzicht auf jedwede „freiwillige Leistung“. Diese sogenannten „freiwilligen Leistungen“ sind selten zusätzlicher Luxus, sondern in vielen Fällen für die Nutzerinnen und Nutzer unverzichtbar, um am Leben teilzuhaben.